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Stan Wawrinka – Identifikationsfigur für Einzelkämpfer

Stan Wawrinka ist das Gegenstück zu Roger Federer. Während Federer durch Selbstsicherheit, Konstanz und sein leichtfüssiges Spiel auffällt, sieht man Wawrinka, dem Arbeiter, die Anstrengung an, und seine Inkonstanz ist schon fast ein Markenzeichen. Holt er sich souverän den ersten Satz, so heisst das gar nichts, denn im zweiten bricht er fast regelmässig ein und verliert ihn so, wie er den ersten gewonnen hat. Dann gelingt ihm im dritten oder vierten Satz wieder fast alles und er gewinnt die Partie. Man traut seinen Augen kaum, wie sicher er beginnt und nach den ersten gewonnenen Games zum Schatten seiner selbst wird und verliert. Spielt er sich an einem Turnier bis in den Final und zum Sieg, so  kann er an den nächsten bereits in der ersten Runde scheitern. Ist er an einem Turnier als Nummer 1 gesetzt, lässt sich fast darauf wetten, dass er lange vor dem Final ausscheidet. Ganz offensichtlich ist bei diesem Spieler, der zu den weltbesten gehört, die mentale Verfassung entscheidend. Bei genauerer Betrachtung sind seine Leistungsschwankungen kein Zufall, denn sie folgen einem wiederkehrenden Muster, das sich sowohl in den einzelnen Spielen, als auch über eine Reihe von Turnieren zeigt. Wawrinkas mentale Stärke ist von seinen eigenen Erwartungen und jenen des Publikums abhängig, je nach dem, ob er als Favorit oder als Aussenseiter gilt. Tritt er als Favorit an, stehen seine Chancen schlecht. Schlägt er aber als Aussenseiter auf, sind seine Chancen intakt, weil er dann, seinem Wahlspruch zufolge, das Scheitern üben kann.

Der Erklärungsversuch muss zwei Ebenen beinhalten, weil diese sich gegenseitig bedingen: die individuelle und die kulturelle. Beim Tennis ist die Befindlichkeit des Spielers für ihn so fühlbar und für den Zuschauer so sichtbar, wie kaum bei einem anderen Sport. Ein Tennismatch wird überwiegend im Kopf gewonnen. Dass sich gerade Wawrinka dessen bewusst ist, äussert sich in seiner Geste, sich nach einem Winner mit dem Zeigefinger an die Stirn zu tippen. Die Koordination von Denken, Bewegung und Schlag verschmelzen mit dem Spieler. Der Schläger führt als verlängerter Arm aus, was im Denken beginnt und in die Bewegung übergeht. Die Abläufe sind in den Körper eingeschrieben und, einmal erworben, nur schwer veränderbar. So entwickelt sich auch die Persönlichkeit. Sie ist die Summe aller Erfahrungen, die aus der familiären, sozialen und kulturellen Herkunft stammen und über die frühkindliche Entwicklung vermittelt werden. Diese verinnerlichten Erfahrungen sind klassenspezifisch bestimmt und drücken sich im Denken, Fühlen und Handeln aus. Sie prägen die Erscheinung der Person.

«Immer versucht. Immer gescheitert. Egal. Versuche es wieder. Scheitere wieder. Scheitere besser.» Dieses Tattoo trägt Stan Wawrinka auf seinem Arm. Nicht aufgeben zu scheitern, das ist die Botschaft, mit der er sich anpeitscht. Von gewinnen ist nicht die Rede. Es scheint, als müsste er sich immer wieder in den Zustand versetzen, in dem er gegen das Scheitern ankämpfen kann. Erst dann spielt er sein bestes Tennis. Denn was sich unbewusst in diesem Zitat ausdrückt, ist die Identifikation mit den Schwächeren oder den Aussenseitern.  Aufgewachsen auf einem Bauernhof, dem ein Behindertenheim angeschlossen ist, und als Schüler der Rudolf Steiner-Schule, die sozial und kreativ ausgerichtet, aber nicht kompetitiv und leistungsorientiert ist, lernte er auf die Stärken der Schwachen Rücksicht zu nehmen und soziale Verantwortung in den Vordergrund zu stellen. Entsprechend darf es nicht sein Ziel sein, der Beste zu werden, sondern sich damit zu begnügen, hin und wieder unter den Besten zu sein.
Tennis – ein Sport für absolute Einzelkämpfer – , bedeutete für Wawrinka die Möglichkeit, aus dem familiären und heilpädagogischen Umfeld auszubrechen, ehrgeizig und egoistisch zu sein, rücksichtslos rivalisieren und kämpfen zu dürfen, denn auch das sind Merkmale seiner Persönlichkeit. Mit diesem Ehrgeiz fühlte er sich seinem Umfeld vielleicht schon immer nicht ganz zugehörig. Er war nicht nur der sozial Orientierte, sondern auch der Einzelkämpfer, der Sieger sein wollte. Ein innerer Konflikt, der sich darin zeigt, dass er sich das «Gewinnendürfen» immer wieder neu erkämpfen muss.

Sein langer Weg vom Aussenseiter, vom «Schweizer, der verliert», wie er einmal sagte, zum Mitglied der Gruppe der weltbesten Vier, ist ein Beispiel dafür, wie langwierig und anstrengend der Prozess ist, unbewusst übernommene Überzeugungen und Wertvorstellungen aus der Herkunftsgeschichte zu verändern und neue Erfahrungen zu verinnerlichen. Symbolisch gesprochen, ist er von der Ferme du Château, in der er aufgewachsen ist, ins Château gezogen. Aber im Schloss residiert eben nicht mehr die Herrschaft, sondern es beherbergt eine heilpädagogische Institution. Das heisst: Unsere Herkunft bleibt prägend, unsere Kindheitserfahrungen nehmen wir immer mit. In eine andere Gesellschaftsklasse dank Leistung und Können aufzusteigen, ist nicht gleichbedeutend mit dem Gefühl, dort auch dazuzugehören. Diese Haltung drückt er aus, wenn er immer wieder betont, dass er sich nie mit Federer, Nadal und Djokovic vergleichen kann, auch wenn er sie ab und zu schlägt. Sein Traum sei es gewesen in Roland Garros zu spielen, aber nie, dort zu gewinnen.
Während Federer mit dem Habitus des Gewinners auftritt, der zu seinem eigenen Markenzeichen wurde, ist Wawrinka ein Werbeträger. Er ist innerlich noch nicht ganz da angekommen, wo er jetzt steht, nämlich in der Gruppe der besten Vier. Aber nach dem Sieg am French Open gelingt es ihm hoffentlich besser, das Scheitern, das ihn antreibt, hinter sich zu lassen. Denn jetzt ist es Zeit für ein neues Tattoo: «Gewonnen! Nochmals gewonnen! Egal. Gewinne wieder! Gewinne besser!»

Eine gekürzte Fassung erschien am 15.6.2015 als Gastkommentar in der NZZ
http://www.nzz.ch/meinung/debatte/das-scheitern-hinter-sich-lassen-1.18560622