Wenn Vertrautes fremd wird
Publiziert in Gruppenanalyse 2, 2011, Mattes Verlag, Heidelberg
„Das müssen Sie doch zugeben, Herr Konsul, die Stadt wächst. Nach meiner Schätzung haben wir jetzt in Zürich unsere dreissigtausend Deutsche (....), was bei etwas mehr als hundertsechzigtausend Einwohnern doch sagen will, dass jeder fünfte Mensch, dem wir begegnen, ein Landsmann ist“, erläutert der Seifenfabrikant. (....) „Es gibt aber“, bemerkte der Konsul, „ausserdem noch stille Reserven, die Eingebürgerten nämlich und die deutschen Mädchen, die durch Heirat Schweizerinnen geworden sind. Und auch deren Kinder darf man mit gutem Recht zu uns zählen.“ (.......) „Und schauen Sie mal unsere Buchläden an und die Zeitungen, die gelesen werden. Kulturell gehört die Stadt zu Deutschland.“(.........) “Das sind auch so zwei Vögel“, bemerkte Schütz und schaute dem Konsul und dem Seifenfabrikant nach, die vorbeigingen. Abt verstand schon, wie er es meinte. „Das ist das Problem der nächsten Jahre“, nickte er, „die Überfremdung“. „Die Verdeutschung“, fügte Schütz bei“ (S. 96/97) Diese Zeilen könnten heute geschrieben worden sein, das sind sie aber nicht. Es ist die Zeit um 1906, die der Zürcher Schriftsteller Kurt Guggenheim in seinem Roman „Alles in Allem“ beschreibt. Er ist in den 50er Jahren erschienen und beschreibt die Zeit zwischen 1900 und 1950 in Zürich. Das, was uns also heute beschäftigt, ist nicht neu. Neu ist nur, dass die Veränderungen sich so in unser Bewusstsein drängen, dass sie nicht mehr übersehen werden können. Und das möchte ich in den Fokus meiner Überlegungen stellen. Dabei geht es in meinen Ausführungen ganz grundsätzlich um die Durchmischung der Kulturen, die zum gemeinsamen Thema der gesamten westlichen Welt geworden ist.
Dieser Roman macht - heute gelesen – nämlich deutlich, dass gesellschaftliche Umwälzungen langsam und über Jahrzehnte, ja Jahrhunderte vor sich gehen. Und dass der Zivilisationsprozess, wie dies Norbert Elias in seiner Theorie beschreibt, mit Veränderungen der Persönlichkeitsstruktur und der Gesellschaft einhergeht. Diese Veränderungen bleiben lange unbemerkt und drängen sich erst durch Zäsuren in unser Bewusstsein. Denken wir an den Beginn des 20. Jahrhunderts, an die Zeit, in der dieser Text spielt – da drangen die revolutionären Theorien von Freud, der die Sexualmoral der Gesellschaft in Frage stellte, erst langsam ins Zentrum der Öffentlichkeit; in der Schweiz führten die Arbeiteraufstände in Zürich zur Gründung der Arbeiterpartei führten, welche die herrschende bürgerliche Gesellschaft in Frage zu stellen begann; und dann die Vorboten des Ersten Weltkrieges, die sich zunehmend bemerkbar machten. Was in der Gesellschaft damals in Gang gesetzt wurde, mutet heute als ein Ergebnis an. Eine gesellschaftliche Umwälzung, die Klassenzugehörigkeiten veränderte, traditionelle Gesellschaftsschichten auflöste und in der ein vereinigtes Europa der kulturellen Veränderung Vorschub leistet.
Das Unbehagen, das heute viele umtreibt, liegt wohl darin, dass uns langsam bewusst wird, wie stark sich unsere westliche Gesellschaft in einem sozialen und kulturellen Umbruch durch die Globalisierung befindet, deren Fortgang wir nicht abschätzen können. Wir konnten zwar ahnen, dass sich die Gründung der EU zwangsläufig auf das Miteinander in den verschiedenen Ländern auswirken muss und dass die technologische Entwicklung Grenzen und Distanzen überwindet, die nicht wirklich vorstellbar waren. Was aber lange nur eine abstrakte Grösse war, ist seit dem Beginn der Finanzkrise vor drei Jahren schockartig in unser Bewusstsein gedrungen. Plötzlich wurden Abhängigkeiten sichtbar, die man nicht wahrgenommen hatte. Wie ein Dominospiel zog der Konkurs der Bank Lehman Brothers das ganze Finanzsystem in den Abgrund und führte zum drohenden Bankrott verschiedener Länder, was heute die Existenz der Europäischen Währungsunion und damit die EU bedroht. Die Abhängigkeiten der Länder untereinander werden zum Beispiel darin sichtbar, dass die Stärke und vermeintliche Unabhängigkeit der Schweiz zu ihrer Schwäche werden, was sich im starken Franken zeigt. Wirtschaft und Politik bewegen sich in eine unklare Richtung, und es ist nicht absehbar, was die Zukunft bringen wird. Die Situation der überfordert scheinenden Politik mutet zunehmend chaotisch an, und die Bedrohung einer schweren Rezession, in welche die westliche Welt geraten könnte, liegt in der Luft. Diese Unsicherheiten schüren Ängste und Verunsicherungen, Aggressionen und Ablehnung gegen alles Fremde. Das Fremde oder das Andere ist plötzlich wahrnehmbar, weil es zwischen uns ist und nicht mehr draussen weit weg.
Ich möchte mich dem Thema auf zwei Wegen annähern. Auf der Grossgruppenebene bzw. auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene einerseits und deren Auswirkungen auf das Individuum andererseits.
In den Medien ist neben dem drohenden Zerfall der europäischen Währung und dem arabischen Frühling schon länger ein Thema vorherrschend, sei das in der Schweiz, in Deutschland, in Frankreich, egal wo in Europa, nämlich das Thema der Migration und damit verbunden die Angst vor Überfremdung. In der westlichen Welt verlieren die sozialdemokratischen Parteien immer mehr Wähleranteile zu Gunsten von konservativen und nationalistischen Parteien. Das Massaker in Norwegen, wurde auf dem Hintergrund einer solchen Problematik verübt, aus Angst vor dem Islam. Angst vor einer Islamisierung und einer Angst vor Überfremdung. Hier in der Schweiz z.B. ist das schwarze Schaf, das die SVP als stärkste Partei, als Wahlplakat verwendete, wohl überall bekannt. Ausländer raus, heisst das im Klartext. Dies, weil eine diffuse Angst und Verunsicherung vorherrschend ist. Angst vor den Folgen der Globalisierung, Angst vor der Finanzkrise, Angst vor der Überschuldung, Angst vor der verschärften Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt durch die Einwanderer und schliesslich Angst vor dem Fremden ganz generell.
Was aber genau ist es, was diese rückwärtsgewandte Bewegung ganzer Gruppen und Länder auslöst, der Mensch an sich aber gleichzeitig von der technologischen Entwicklung fasziniert bleibt und sie stetig vorwärts treibt, ja bereit ist, alle Grenzen zu überschreiten, sogar jene, das Weltall ab 2012 als neue Tourismus-Destination zu präsentieren, das Fremde schlechthin. Wie passt das zusammen, auf der einen Seite eine grenzenlose Offenheit und auf der anderen Seite der zunehmende Widerstand und die Ablehnung alles Fremden im eigenen Land?
Betrachtet man diese Bewegung aus soziologischer und gruppenanalytischer Sicht, so müssen wir zum Verständnis auf Norbert Elias (1997) und seine Theorie zum Prozess der Zivilisation zurückgreifen. Elias versteht den Menschen als soziales Wesen, das durch eine offene Persönlichkeit geprägt ist und immer in Verbindung zu anderen Menschen steht. Das bedeutet, dass der Mensch immer nur über einen relativen Grad an Autonomie, aber niemals über eine absolute Autonomie verfügt. Das Netz von Angewiesenheiten von Menschen aufeinander ist das, was sie miteinander verbindet. Foulkes verwendet dafür den Begriff der Matrix. Da Menschen immer aufeinander angewiesen sind, bewegen sie sich nur in Gruppen oder – wie Elias es bezeichnet – in Figurationen. Weil sich die Menschheit in einem permanenten ungeplanten Entwicklungsprozess befindet, verändern sich aber diese Formationen und zwingen die Gruppen oder Staaten dazu, sich in ihrer Zusammensetzung immer wieder neu zu gestalten, um auf eine nächste Entwicklungsstufe zu gelangen. Auf der staatlichen Ebene wird das heute in Bezug auf die EU deutlich und zunehmend auch in Bezug auf kommende Weltmächte wie China oder Japan. Da sie wirtschaftlich immer bedeutender werden, erfahren wir immer mehr über sie, was sie uns näher bringt und vertrauter macht. In der Gesellschaft entsteht der Entwicklungsdruck durch den technischen Fortschritt, der wirtschaftliche Implikationen nach sich zieht und insgesamt zu einem zwischenstaatlichen Konkurrenzdruck führt. Dieser Entwicklungsdruck drängt die einzelnen Gruppen bzw. Länder zur Integration über die Stufen der Nationalstaaten hinweg zur Bildung vereinigter Staaten. Der Zivilisationsprozess hat also zur Folge, dass ganze Länder Integrationsschritte bewältigen müssen. Diese gehen aber immer mit Erschütterungen einher, da sie erst fühlbar werden, wenn die Veränderung bereits eingesetzt hat. Oder anders gesagt, bewusst wird uns die Veränderung erst, wenn sie schon passiert ist. Weil Prozesse dynamisch sind, verändern sich notwendigerweise die Konstellationen bzw. Gesellschaften. Damit verändert sich aber auch die kollektive Befindlichkeit einzelner Gruppen oder Länder, und zwar so, dass die betroffenen Menschen in ihrer Persönlichkeitsstruktur, in ihrem sozialen Habitus auf der früheren Stufe beharren und Widerstand leisten. Diese Nachhinkeeffekte, wie sie Elias bezeichnet, oder kollektiven Widerstände beinhalten gefühlsstarke Vorstellungen, die sich der Integration widersetzen, weil sie den Charakter eines Untergangs haben, eines Verlustes, über den man nie aufhören kann zu trauern. So verstanden, übernimmt die SVP in der Schweiz – als Gruppenmitglied sozusagen – den Widerstand gegen die Integration einer neuen Entwicklungsstufe. Betrachtet man die Schweiz und Norwegen, als die beiden Länder, die der EU noch nicht beigetreten sind, so repräsentieren sie den Widerstand in der Gesamt-Gruppe, also der EU, weil sie, ob Mitglied oder nicht, zu Europa gehören. Wir Schweizer sind Europäer, ob wir in der EU sind oder nicht.
Wenn diese gefühlsstarken Vorstellungen jeden Entwicklungsprozess begleiten, so muss der einzelne unbewusst ständig damit beschäftigt sein, das, was sich bereits verändert hat, zu integrieren. Also nicht nur im Sinn des individuellen Älterwerdens, sondern auch im Sinn des permanenten gesellschaftlichen, kulturellen und sozialen Veränderungsprozesses. Wenn wir also davon ausgehen, dass wir Veränderungen erst wahrnehmen, wenn sie bereits geschehen sind, hinken wir immer einen Schritt hinterher und sind immer damit beschäftigt, das Neue als jetzt Vertrautes zu integrieren. Oder anders gesagt: Wir müssen ständig Anpassungsleistungen erbringen und uns über Neues verständigen, das erst auf den zweiten Blick die Differenz offenbart. Kommunikationsstörungen sind damit vorprogrammiert.
Während man sich gegen Muslime oder Schwarze deutlich abgrenzen kann, und Tamilen, Italiener, Spanier oder Portugiesen tendenziell unter sich bleiben und sich dementsprechend häufig nicht wirklich integrieren, wird es dort bedrohlich, wo sich das Fremde mit dem eigenen vermischt. Dort wo die feinen Unterschiede sichtbar und spürbar werden. Zum Beispiel, wenn die Kinder dieser Eltern hier zur Schule gehen. Die Kinder von heute, ob nun Schweizer oder Ausländer wachsen bereits mit kulturellen Unterschieden auf und erleben als gegeben, was für die ältere Generation neu war oder neu ist. Und für die ältere Generation ist neu, dass sich so viele Deutsche in der Schweiz bzw. in Zürich niederlassen. Auf den ersten Blick sind die Unterschiede nicht gross, weil die Deutschen uns so vertraut sind. Stellen sie aber eine immer grösser werdende Gruppe dar, so fühlt man sich von dieser übergangen oder vereinnahmt und Ablehnung taucht auf und die Deutschen fühlen sich dann von uns Schweizern oft unfreundlich und abweisend behandelt.
Was sind die inneren Hemmungen, die dazu führen, dass man sich der Grenzen ständig bewusst ist, und wie drücken sich die Unterschiede aus? Wovor haben wir Angst? Haben wir Angst, dass unsere Kultur und damit Traditionen verschwinden könnten? Aber auch Traditionen und die Kultur verändern sich, daran führt kein Weg vorbei. Denkt man z.B. nur an die Musik, so hat mit den Beatles eine neue Kultur Einzug gehalten, die die Menschen weltweit verbindet. Für unsere Eltern war das keine Musik sondern Lärm.
Während Norbert Elias in seiner Theorie von der Gruppe ausgeht, die das Individuum bestimmt, wählt der Ethnologe Mario Erdheim (1988) einen anderen Zugang zum Verständnis. Er versteht die Entwicklung der Kultur als das Ergebnis der Auseinandersetzung mit dem Fremden. Er greift in seinem Verständnis des libidinösen Kulturbegriffs auf den Ödipusmythos zurück. Das Fremde, repräsentiert durch den Diener, der das Kind vor dem Tod durch den Vater rettet, wird zum Liebesobjekt. Das, was die Familie sprengte, war die Umgehung des Inzestverbots, welche dazu führte, dass Ödipus verleugnet wurde und ausserhalb der Ursprungsfamilieaufwachsen musste. Genau dies führt aber zur kulturschaffenden Leistung. Erdheim konzentriert sich auf den libidinösen, prozesshaften Charakter der Kultur. Er beschreibt das Kulturelle als einen Ort des Übergangs, einen Ort dazwischen. Es ist die Grenze zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Das Unheimliche, wo aus der Begegnung zwischen dem Eigenen mit dem Fremden etwas Neues entsteht. Dieses Neue ist erst einmal chaotisch, weil noch keine Ordnung besteht und es erst integriert werden muss. Er betont, dass das Kulturelle nicht auf das Elitäre und Avantgardistische beschränkt werden darf, sondern dass es alltäglich ist, im Sinne einer Assimilation von Neuem und Fremdem.
Was Erdheim in Bezug auf die Kulturentwicklung meint, hat der französische Soziologe Pierre Bourdieu (1982) mit seiner Theorie über die feinen Unterschiede bzw. den Begriff des Habitus erforscht. Der französische Soziologe ist für die Gruppenanalyse ähnlich bedeutend wie Norbert Elias. Sie beide haben diesen Begriff denn auch zum Fachterminus erhoben. Was meint nun der Begriff Habitus. Bourdieu bezeichnet damit das gesamte Auftreten und Verhalten einer Person. Das, was eine Person lebt, denkt und fühlt. Der Begriff umfasst die objektive Kategorisierung von Angehörigen bestimmter sozialer Klassen innerhalb der gesellschaftlichen Strukturen. Auf das Subjekt bezogen, entspricht es der Verinnerlichung kollektiver Dispositionen. Um die Funktionsweise zu verstehen, führt Bourdieu den Begriff der generativen Grammatik ein und den sozialen Kontext in Bezug auf drei zentrale Kategorien der Gesellschaft: Soziale Klasse, Geschlecht und soziales Feld. Der Habitus ist klassenspezifisch determiniert, was bedeutet, dass Lebensbedingungen über Anpassungs-, Lern- und Konditionierungsprozesse als klassenspezifische Systeme verinnerlicht werden. Die soziale Herkunft und der bisherige soziale Lebenslauf sind für die Prägung des Habitus von zentraler Bedeutung. Über die frühkindliche Entwicklung vermittelt, geht darüber hinaus die gesamte kollektive Geschichte der Familie und der Klasse in den Habitus ein. Bourdieu bezeichnet den Habitus als „geronnene Lebensgeschichte“ . Diesen Begriff, der mir sehr stimmig und sehr lebendig zu sein scheint, möchte ich mit verschiedenen Vignetten illustrieren.
Eine 50jährige Engländerin, die seit 30 Jahren in der Schweiz lebt und arbeitet, eine Familie mit drei Kindern hat, welche als Schweizer und Engländer aufwachsen, sagt: „Ich fühle mich hier in der Schweiz immer noch fremd und nicht wirklich zugehörig. Wenn ich in London aus dem Flugzeug steige und in das Dorf komme, in dem ich aufgewachsen bin, dann habe ich das Gefühl, zuhause zu sein. Bin ich dann aber ein zwei Tage dort, dann fühle ich mich auch dort fremd und nicht mehr zugehörig.“
Eine Deutsche, die für zwei Jahre nach Paris gegangen war, um zu studieren, sagt im Rückblick: „Ich habe mich nie wohlgefühlt in Paris, immer kam mir die Ablehnung, eine Deutsche zu sein, entgegen, und am Ende wusste ich nicht mehr, ob ich mit dieser Annahme auf die Franzosen zuging oder ob sie mir tatsächlich immer so begegneten.“
Eine Französin wiederum, Mitarbeiterin in einem Schweizer Grosskonzern in Zürich, dessen Geschäftsprache Englisch ist, fühlt sich auch nach Jahren in Zürich immer noch fremd und hadert mit den spiessigen Deutschschweizern, denen die französische Kultur fehlt.
Diese Beispiele entsprechen der Sicht- und Erlebensweise von einzelnen Menschen, die als Fremde in ein anderes Land gehen.
Aus der Sicht von „Einheimischen“ muss es sich zwangsläufig anders anhören. So erlebe ich ein irritierendes Fremdheitsgefühl, als mir bewusst wird, dass ich Schriftdeutsch spreche, weil im Laden alle um mich herum Hochdeutsch sprechen, sowohl Kunden als auch Verkäufer – es sind alles Deutsche. Für einen kurzen Augenblick weiss ich nicht mehr, wo ich bin.
Ebenso irritiert es mich, wenn ich im Schweizer Radio eine deutsche Moderatorin höre. Dann erlebe ich ein kurzes, aber ganz intensives Gefühl von Entfremdetsein und von Verlust.
Zwischen Deutschen und Deutschschweizern spielt sich denn auch Wesentliches über die Sprache ab. So spricht ein Deutschschweizer kein Hochdeutsch, sondern Schriftdeutsch. Es ist die Sprache, die wir als Kinder in der Schule zu schreiben lernen. Und es fällt auf, dass die jungen Schweizer und Schweizerinnen ihre Mitteilungen im Internet und auf dem Handy in Schweizerdeutsch, in ihrer Muttersprache formulieren, so als würde der Widerstand über die Sprache laufe bzw. als würde ein Teil der Identität und Zugehörigkeit über den Dialekt laufen. Wenn ich jetzt diesen Text auf Schriftdeutsch vortrage, dann ist das bereits eine Übersetzung, weil ich nicht hochdeutsch denke. Aber die deutsche Kultur fliesst auch noch anders schon früh in unseren Alltag ein. So wachsen wir mit den deutschen Fernsehsendern auf. Wer zuhause einen Fernseher hat, kauft sich damit neben allen anderen vor allem auch deutsche Sender ein. Wer in Deutschland fernsieht, der findet alles, nur keine Schweizer Fernsehsender. Das Resultat ist, dass wir Schweizer schon früh zwischen uns und dem anderen unterscheiden und dieses andere gleichzeitig Teil des Vertrauten ist. Diese Situation führt zwangsläufig dazu, dass wir über Deutschland recht gut informiert sind. Dass man in Zürich die meisten deutschen Tageszeitungen kaufen kann, ist selbstverständlich, umgekehrt muss man in Berlin oder Frankfurt eine Schweizer Zeitung lange suchen.
Aber erst im Miteinander sind wir gezwungen eine kulturelle Leistung zu erbringen, die etwas anderes und Neues sein wird und inmitten dieses Prozesses befinden wir uns. Zum Abschluss meiner Überlegungen blende ich deshalb an den Beginn des 20. Jahrhunderts zurück und lasse noch einmal den Schriftsteller Kurt Guggenheim zu Wort kommen:„Vor einigen Tagen hatte die Zahl der Studierenden die Tausend überschritten; fast die Hälfte von ihnen waren Ausländer, zum grossen Teil Russen und Deutsche. Der Vergleich eines Tiegels drängte sich auf. Diese jungen Leute holten etwas, aber sie brachten auch etwas mit. Und zwischenhinein schliffen sie die Sohlen ihrer Schuhe auf dem Pflaster dieser Stadt ab, atmeten sie ihre Luft und kamen sie in Verbindung nicht nur mit den Schweizern an den Hochschulen, sondern auch mit dem kleinen Volk der Zimmervermieterinnen, der Briefträger und der Schalterbeamten der Kreisbüros. Wenn sie gingen, blieb in ihnen noch etwas mehr haften als der Lehrstoff, etwas, dessen sie nicht achteten, aber das sich vielleicht später zu einem Lebensgefühl verdichtete: die Vorstellung der bürgerlichen Freiheit und der Toleranz“ (S.101). – hoffen wir, dass das auch heute noch ein wenig so ist.
Zusammenfassung: Der Artikel versucht, sich den aktuellen gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen, die durch die Globalisierung stattfinden, anzunähern und konzentriert sich auf das Thema der Migration. Geht man von der Zivilisationstheorie von Norbert Elias aus, so ist eine permanente Veränderung der Gruppenzugehörigkeiten zwingend. Dies zeigt sich darin, dass wir uns zur Zeit in einer noch nicht überschaubaren, aber wahrnehmbaren Umwandlung der Gesellschaft befinden. Dabei wird deutlich, dass in der westlichen Welt das Primat der Wirtschaft über die Politik zum Scheitern verurteilt ist. Wo sich Norbert Elias auf die gesamtgesellschaftliche Ebene bezieht, erhellen Mario Erdheim mit seinem Kulturbegriff und Pierre Bourdieu mit dem Begriff des Habitus die Bedeutung für das Individuum. Sie ermöglichen ein Verständnis dafür, dass die permanenten gesellschaftlichen Veränderungen das Individuum dazu zwingen, ständig Anpassungsleistungen an das Neue zu erbringen und Vertrautes dadurch aufgeben zu müssen. So verstanden ist die permanente kulturelle und gesellschaftliche Veränderung unabdingbar, und die Migration entspricht damit dem Resultat der gesellschaftlichen Entwicklung auf dem Hintergrund des Zivilisationsprozesses.
Summary: The paper intends an approach to current social and political changes induced by globalization, and centers on migration. Norbert Elias’ theory on civilization stipulates forceful and permanent changes in group memberships. That is: we can observe the change in society which is presently taking place, but at the same time we cannot fully grasp its meaning. And so the supremacy of the economy over politics as practiced in the Western world is doomed to fail. While Norbert Elias’ concept covers a view of society as a whole, Mario Erdheim’s “culture” and Pierre Bourdieu’s “habitus” focus on the role of the individual. They make us understand how the constant changes in society force a constant adjustment to new situations upon the individual; accordingly he has to give up those he is familiar with. Seen this way, permanent changes in culture and society become inevitable, and the migration phenomena are, therefore, directly related to these changes, as part of the civilization process.
Literatur:
- Pierre Bourdieu (1982): Die feinen Unterschiede. Suhrkamp, Frankfurt, 1987
- Norbert Elias: Menschen in Figurationen. Ein Norbert Elias Lesebuch. UTB, Leske+Budrich, Opladen, 1995
- Mario Erdheim: Das Fremde in der Kultur. In: Günter, M./Schreivogel, P.(Hrsg.) Sigmund Freud. Die Aktualität des Unbewussten. Attempto Verlag, Tübingen, 2007
- Kurt Guggenheim (1957): Alles in Allem. Orell Füssli, Zürich, 5. Auflage 2009
- Überarbeitete Fassung eines Vortrags im Rahmen der EFPP-Tagung „Neugier und Angst in der Begegnung mit dem Anderen“, vom 20. November 2010 in Zürich.
Sonja Wuhrmann, Psychologin, Psychoanalytikerin, Gruppenanalytikerin SGAZ, Lehrgruppenanalytikerin und Gruppenanalytische Supervisorin und Organisationsberaterin DAGG. Mitglied der Gruppe Bellevue, Arbeitskreis Gruppenanalyse in Zürich. Anschrift: sonja.wuhrmann@praxis-wuhrmann.ch